Ich halte es für sehr sinnvoll, wenn Menschen sich Ziele setzen. Ohne Ziele, ohne Orientierungen für das eigene Handeln, ohne Richtschnur für den eigenen Weg irren Menschen häufig in der Welt umher. Ziele zu haben, ist richtig und gut. Wenn ich auch die Absolutheit, mit der das Seneca-Zitat: „Ignoranti, quem portum petat, nullus suus ventus est: Wenn man nicht weiß, welchen Hafen man ansteuert, ist kein Wind günstig. Seneca, Epistulae Morales, VIII, 71, 3“ immer wieder verwendet wird, nicht teile. Man könnte mit der gleichen Überzeugung und Berechtigung auch sagen: „… dann ist jeder Wind günstig“. Nämlich dann, wenn man mit und in dem Hafen zufrieden ist, in dem man dann (zufällig) ankommt. Vielleicht gefällt es einem dort ja sehr gut, vielleicht ist es dort ja viel schöner, als in dem Hafen, den man (zielbezogen) angesteuert hätte. Ohne solche Zufälle wären manche große Entdeckungen der Menschheit nicht gemacht worden.
Mir geht es hier darum deutlich zu machen, dass Ziele und Zielvereinbarungen in Unternehmen als Orientierungsrahmen verstanden und eingesetzt werden. Leider werden sie vielfach nur als Anreiz zu mehr Leistung (und dann gekoppelt mit entsprechenden Bonussystemen) missverstanden. Dies halte ich für falsch. Selbst eine damit verbundene mögliche Motivationssteigerung richtet sich dann auf die Erreichung des Bonus, richtet sich nur auf die Erreichung der Ziele, die mit einem Bonus verbunden sind. Es ist überhaupt nicht ausgemacht, dass diese Ziele auch mit den langfristigen Planungen und Wertvorstellungen der Organisation oder mit Zielen anderer Einheiten dieser Organisation übereinstimmen. In der Regel hat man nur dieses individuelle Einzelziel im Auge; andere, vielleicht durchaus sinnvollere oder gleich wichtige Arbeiten, werden ausgeblendet.
Zwanzig Jahre sind jetzt vergangen, seit Reinhard K. Sprenger sein Buch „Mythos Motivation“ veröffentlicht hat (1. Auflage, 1991) und damit zum Bestseller-Autor wurde. Das bedeutet also, dass viele Führungskräfte und Manager das Buch gelesen haben (müssen).
Was hat es bewirkt?
Was haben wir daraus gelernt?
Sprenger hat in kaum zu überbietender Klarheit den Unsinn und die kontraproduktive Wirkung von Bonus-zahlungen darlegt. Gleichwohl findet man heute geradezu eine Ausuferung von Bonus- und Prämiensystemen und von damit verknüpften Zielvereinbarungen. Offenbar ist es nicht nur Mode geworden, gehaltsrelevante Zielvereinbarungen abzuschließen. Es scheint vielmehr sogar so zu sein, dass Unternehmen, die das System „Zielvereinbarungen“ nicht zu ihrem personalpolitischen Instrumentarium zählen, nicht „state-of-the-art“ arbeiten. Sie hinken (scheinbar) hinterher, werden als altmodisch wahrgenommen und befinden sich in Erklärungszwang und Rechtfertigungsnöten. Einer macht es dem anderen nach! Kaum jemand macht sich noch eigene Gedanken über diese Zusammenhänge und fällt ein eigenes Urteil. Anders ist es gar nicht zu erklären, dass es sogar auf der politischen Ebene, im universitären Bereich bei Professoren, in Kommunalverwaltungen und in vielen Unternehmen zu einer derartigen Ausuferung solcher Ziel-Bonus-Systeme kommt.
In Zielvereinbarungen sollte geregelt werden, mit der Erreichung welchen Ergebnisses ein Unternehmensleiter (oder eine Vorgesetzte) „zufrieden“ ist. Es sollte klar sein, welches Ergebnis für die erfolgreiche Behauptung eines
Unternehmens am Markt benötigt, welches Ergebnis eventuell erwünscht und welches Ergebnis vielleicht auch erträumt wird. Dies gilt sinngemäß natürlich auch für den öffentlichen Sektor. Genau in diesem Sinne und mit dieser Zielsetzung aufgestellte Ziele könnten Mitarbeitern als verbindliche Leitlinien und als notwendige Orien-tierungen dienen. Doch leider dienen Zielvereinbarungen häufig nur dazu, eine für beide Seiten akzeptable Legitimation, eine Norm, eine Anspruchsgrundlage zu schaffen, um auf dieser Basis variable (entweder zusätzliche oder ein Fixum substituierende) Gehaltsbestandteile zu schaffen. Angestellte erwarten dabei etwas zusätzlich, Unternehmen wollen damit häufig ehemals fixe Gehaltsbestandteile ersetzen. Dies führt geradezu notwendigerweise dahin, dass Führungskräfte und Mitarbeiter wie auf einem Basar über die Zielgrößen feilschen. Als ob die wirtschaftlichen Notwendigkeiten für ein Überleben am Markt mit den Mitarbeitern verhandelbar seien! Erst kürzlich hörte ich den Leiter einer Filiale von immerhin 700 Menschen, der gerade im Begriff war, die Ziele für das Jahr 2011 mit seinem Vorstand abzuschließen, zu seinen eigenen Mitarbeitern sagen: „Ja, wir sind jetzt am Verhandeln, vielleicht gelingt es uns ja, für unsere Filiale ein etwas weniger anspruchsvolles Ziel abzuschließen“. Ist dies verantwortliches Handeln im Sinne des Unternehmens? Nein! Hier denken und wirken die höchsten Führungskräfte dieses Unternehmensteils wie normale Sachbearbeiter, die um die Erreichung ihrer Gehaltszulage fürchten.
Auch wenn dies immer wieder unterstellt und behauptet wird: Es treffen sich in solchen Situationen eben gerade nicht die Interessen der Mitarbeiter (in der Regel sind dies die Zielnehmer) mit den Interessen des Unternehmens (dem Zielgeber). Vielmehr liegt das Interesse der Mitarbeiter darin, die Hürde für diesen Zusatzverdienst möglichst niedrig zu setzen, also niedrige Zielvereinbarungen abzuschließen. Darauf ist zunächst die Energie gerichtet. Umgekehrt sieht es für das Unternehmen aus. Für dieses bedeuten die zu zahlenden Prämien zusätzliche Kosten, für die man möglichst viel an Leistungen „einkaufen“ will. Also liegt das Interesse der Unternehmensvertreter darin, eine möglichst hohe Hürde aufzubauen, also eine hohe Zielvereinbarung abzuschließen.
Und hierbei werden die Motive von Mitarbeitern mit denen des Unternehmens verknüpft? Hierbei gibt es eine Balance? Mitnichten!. Wer in der Praxis die Zähigkeit solcher Verhandlungen über „realistische“ Zielverein-barungen einmal miterlebt hat, kann ein Lied davon singen. Wohl auch deshalb kommen dann viele Fachleute zu dem Schluss: Die Balance zu wahren, „das gelingt den meisten Unternehmen nicht“, so kürzlich im Hamburger Abendblatt vom 08.01.2011, Seite 61). Aha! Im Klartext gesprochen bedeutet diese Aussage aber doch nichts anderes als: Die betreffenden Führungskräfte und / oder die Mitarbeiter in diesen Unternehmen sind unfähig. Aber dieser Schluss wäre voreilig gezogen. Es liegt nämlich nur selten an den konkreten Mitarbeitern oder Führungskräften, die Zielvereinbarungen abschließen. Vielmehr ist dieser Konflikt, sind diese Probleme zwangsweise vorprogrammiert. Sie sind systemimmanent. Und trotzdem wird dieses System glorifiziert und weiter und weiter verbreitet. Den „Schwarzen Peter“ bekommt jetzt die individuelle Führungskraft zugeschoben. Ihre Aufgabe soll es nun sein, die Mitarbeiter „zu motivieren“, die höhere Zielvereinbarung – gegen deren ureigenste Interessen – zu akzeptieren und abzuschließen. Eine unsinnige, weil unmögliche Aufgabe für Führungskräfte. Und bitte: Hier geht es nicht um unwillige Mitarbeiter (im Sinne von Typ X bei McGregor); vielmehr sind dies die Spielregeln des Spiels „Erfolgszulagen“. Denn mit dem Abschluss von Zielvereinbarungen sind in der Regel Bonus- oder Zulagenzahlungen bei deren Erreichen verbunden. Die einen wollen ein bisschen mehr nach unten, die anderen vielleicht doch ein bisschen mehr nach oben. Geht nicht, geht doch, geht unter welchen Rahmenbedingungen. Viele kennen das Spiel. Am Ende einigt man sich – nach welchem Prozess auch immer. Oder einigt man sich nur scheinbar? Gilt hier vielleicht, dass innerlich nur eine 70 %-ige Zustimmung zu einem 100 % Ziel abgegeben worden ist (so Sprenger)? Wie dem auch sei, am Ende steht in Zielvereinbarungen – trotz allem – ein Wert.
Und jetzt beginnt das echte Dilemma. Wie verbindlich werden solche Zielvereinbarungen wirklich genommen? Denn jetzt wird von allen Seiten viel Energie darauf verwendet, die ursprüngliche Vorstellung, die „eigentliche“
Vorstellung, mit der man am Anfang in die Verhandlungen gegangen ist, doch noch durchzusetzen und zu realisieren. Hierin liegt der tiefere Sinn und Zweck von Bonussystemen und Zielerreichungsgraden: Das doch noch zu erreichen, was in den Zielverhandlungen nicht gelungen ist durchzusetzen. Je nach individuellem Zielerreichungsgrad gibt es zusätzliches Geld. Zum Teil fängt dies schon bei Zielerreichungsgraden von unter 100 % an. Und den richtig fetten Bonus gibt es dann beispielsweise bei 120 % Zielerreichungsgrad, häufig gerade „zufällig“ der Wert, den sich die Führungskräfte zuerst vorgestellt hatten. Danach hört die Steigerung der Erfolgszulage in der Regel auf.
Auf Mitarbeiterseite wird viel Energie darauf verwendet, Gründe zu finden, die belegen, warum man das Ziel nun am Ende doch nicht erreichen konnte, Gründe, die dann alle außerhalb der Einflussmöglichkeiten der Mitarbeiter liegen, so dass Zielvereinbarungssysteme um solche „nicht beeinflussbaren Umstände“ „relativiert“ werden – oft genug durch Änderung der Rahmenbedingungen im Nachhinein. Dadurch gelingt es, auch dann Prämien zu erhalten, wenn die Ziele nicht zu 100 % erreicht worden sind. So sind am Ende alle Beteiligten Sieger und Verlierer zugleich. Vielleicht haben tatsächlich einige etwas mehr Gehalt erhalten, vielleicht ist tatsächlich der eine oder andere Zielwert übertroffen worden (ob dies nicht auch ohne Bonuszahlung erreicht worden wäre, ist dabei eine völlig offene Frage). Verloren haben alle: an Glaubwürdigkeit. Verloren hat das System Zielvereinbarung. Keine Glaubwürdigkeit, keine Verbindlichkeit, kein Ernst in der Sache.
Nur eine Show! Schade!
Was spricht eigentlich dagegen, mit den Werten, die in Zielvereinbarungssystemen festgelegt werden, tatsächlich – auch innerlich – zufrieden zu sein und dann lieber eine 100 %ige Zustimmung zu einem 70 %igen Ziel abzuschließen? Wäre dies der Fall, könnte man auf Zielerreichungsgrade >100 % und auf daran gekoppelte höhere Erfolgszulagen – also auf eine Staffelung – verzichten. Ist man tatsächlich mit dem angepeilten Wert nicht zufrieden, dann muss man einen höheren wählen – oder je nach Situation – einen niedrigeren. Oder, wenn man sich nicht einigt, schließt man gar nicht ab. Das ist immer noch besser, als der oben geschilderte, kritisierte Zustand.
Zielvereinbarungssysteme, die mit Bonuszahlungen verknüpft sind, sind in der Regel so gestaltet, dass die Bonuszahlungen bei 100 % Zielerreichungsgrad beginnen und irgendwo zwischen einem (meist willkürlich gewählten) Zielerreichungsgrad zwischen 120 % und 150 % enden. Dort, wo das Geschäft läuft, werden zusätzliche Boni gezahlt, wo doch der Erfolg und der Spaß an erfolgreicher Arbeit genug Motivation aus sich heraus zur Folge haben sollte. Warum wird hier die intrinsische Motivation durch zusätzliche, eigentlich überflüssige externe Motivation – zumindest partiell – zerstört?
Für Werte unter 100 % Zielerreichungsgrad, also dort, wo man dieser Philosophie nach nun eigentlich motivierend eingreifen müsste, wird in der Regel kein Bonus gezahlt, im Gegenteil: hin und wieder müssen dann bereits gewährte Vorschüsse auf die Erfolgszulage zurückgezahlt werden. Motivierend?
Dies muss man sich nun einmal kritisch durch den Kopf gehen lassen: Da haben wir also eine Situation, die für das Unternehmen durchaus bedenklich ist. Die Ziele sind nicht erreicht worden. Das, was zum langfristigen Überleben des Unternehmens am Markt notwendig gewesen wäre zu erreichen, ist verfehlt worden. Schlimm genug. In einer solchen Situation braucht ein Unternehmen tatsächlich für die Zukunft die gesamte verfügbare Motivation, das gesamte Engagement seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, vielleicht zeitweise sogar noch ein bisschen mehr. Und gerade jetzt wird den Mitarbeitern – wegen der Verfehlung des Zieles im Vorjahr – das Geld gestrichen, wird der (von Mitarbeitern immer erwartete) Bonus nicht gezahlt. Und das soll jetzt zu höherer Motivation und zu zusätzlichem Engagement führen? Welche Motive sollen denn hier jetzt wirksam werden und langfristig und nachhaltig für zusätzliches Engagement sorgen? Angesichts der Enttäuschung über das Ausbleiben der an sich einkalkulierten Gratifikation ist hier ein zusätzliches Maß an Motivation nicht sehr wahrscheinlich. Hier werden die völlig falschen Anreize gesetzt. Hier wird ein völlig untaugliches System kultiviert. Und mit Motivation hat dies nun wirklich nur noch wenig zu tun. Also zahlt man als Unternehmen eben trotzdem, manchmal dann „Blei-beprämien“ dafür, dass nicht in einer solchen Situation die vermeintlich besten Mitarbeiter auch noch gehen. Ob Mitarbeiter, die in schwierigen Unternehmenssituationen das Ausmaß ihres Engagement und ihrer Motivation von der Zahlung zusätzlicher Bonuszahlungen abhängig machen, nun gerade zu den Besten gehören, das ist eine ganz andere Frage.
Der Abschluss von Zielvereinbarungen nach dem oben beschriebenen Muster ist die Ursache dafür, dass Zielvereinbarungen so häufig scheitern. Beide Seiten vereinbaren einfach Ziele zum Selbstzweck von Zielvereinbarungen. Auch wenn keiner die Ziele wirklich ernst nimmt, werden sie dennoch verfolgt, weil deren Erreichung finanzielle Konsequenzen hat. Dies gilt selbst dann, wenn sich die Umstände ändern und das Ziel weniger unternehmerische Relevanz hat als vorher.
Insofern plädiere ich für einen sehr bewussten Umgang mit Zielen und Zielvereinbarungen. Nicht in jedem Fall sind sie sinnvoll, nicht in jedem Fall erfüllen sie ihren Zweck. Zielvereinbarungen dürfen nicht dogmatisch
angewendet und aus meiner Sicht in keinem Fall mit systematischen Bonuszahlungen verknüpft werden. Und wenn doch, dürfen wenigstens die Regeln des Systems nicht mehr nachträglich verändert werden. Nur so gelingt
es, Zielvereinbarungen auch im Zeitablauf auf ihre jeweils aktuelle Gültigkeit und ihre Vereinbarkeit mit übergeordneten oder anderen gleichrangigen Zielen zu überprüfen. Dies trägt auch dazu bei, die Energien dahin zu bündeln, wo sie im individuellen Fall auch tatsächlich aus Unternehmenssicht gebraucht werden. Die immer noch von Organisationen vermehrt eingesetzte Vorgehensweise, Zielvereinbarungen mit Bonussystemen oder Erfolgszulagen verknüpft neu einzuführen, halte ich inzwischen schon für einen Anachronismus.